Irre werden?

24.02.2019 / 9

 

Er könne Menschen verstehen, „die an uns irre werden“, sagte der Eichstätter Bischof Gregor Maria Hanke vor drei Wochen bei der Vorstellung des internen Prüfberichts des Finanzskandals der Diözese Eichstätt. Es ist in der Tat zum irrewerden, wenn man dieser Kirche angehört, in der gerade ein Skandal auf den anderen folgt:

Erst die Offenlegung des jahrzehntelangen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch Geistliche, dann der Finanzskandal in Eichstätt, gefolgt von einem weiteren Finanzskandal in der österreichischen Diözese Gurk und nun der sexuelle Missbrauch von Ordensfrauen durch Geistliche.

Was tun? – Irre werden? Vor Wut explodieren? Verzweifeln? Alles hinwerfen? Der Kirche den Rücken kehren und austreten? …

Diese und viele weitere Fragen wurden am vergangenen Wochenende in unserer Pfarreiengemeinschaft offen diskutiert, als der Generalvikar unserer Diözese Harald Heinrich, zusammen mit dem Leiter der Fortbildungsabteilung Dr. Anton Schuster und Domvikar Martin Riß zum Themenabend „Missbrauch in der katholischen Kirche“ ins Pfarrzentrum St. Albert kamen. Zu Beginn erläuterten sie die Ergebnisse der sogenannten MHG-Studie der deutschen Bischofskonferenz „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige“. Anschließend stellten sie sich den Fragen der anwesenden Gemeindemitglieder, Pfarrgemeinderäte und Kirchenverwaltungsmitglieder. Dabei wurde zwei Stunden lang offen, heftig und kontrovers diskutiert.

Auch wenn letztendlich deutlich wurde, dass so manche Frage nicht – oder nur unbefriedigend – beantwortet werden kann und dass uns die Auswirkungen sexuellen Missbrauchs in der Kirche wohl noch lange beschäftigen werden, stimmt mich hoffnungsvoll, dass mittlerweile über diesen und weitere Missstände offen gesprochen werden kann und dies auch getan wird – und zwar auf allen Ebenen.

So findet in diesen Tagen im Vatikan ein Treffen der Vorsitzenden der 113 Bischofskonferenzen, der Ostkirchen, der Ordensoberen und der Leiter der Kurienbehörden zusammen mit Papst Franziskus statt, um sich mit den sexuellen Missbräuchen in der katholischen Kirche auseinanderzusetzen. Hierbei werden Experten Vorträge halten und Betroffene aus der ganzen Welt sollen gehört werden.

Papst Franziskus hat im Vorfeld deutlich gemacht, dass es keine Vertuschung mehr geben wird und er benennt mutig und offen die Ursachen dieser Missstände, unter anderem den Klerikalismus.

Ja, es gibt ihn, den Klerikalismus, und er wird nach wie vor gepflegt – von zahlreichen Geistlichen selbst und erstaunlicherweise auch von so manchen Gläubigen, die in den Geistlichen nur den geweihten Würdenträger und nicht den Menschen sehen wollen. In deren Augen bekommt eine kirchliche Veranstaltung und insbesondere ein Gottesdienst erst dann Gewicht, wenn einer der „hochwürdigen Herren“ anwesend ist – am besten der Pfarrer oder Kaplan oder zumindest der Diakon.

Wenn Papst Franziskus im Klerikalismus einen der Gründe erkennt, der diese Dimension von Missbräuchen an Kindern und Jugendlichen ermöglicht hat, das sollte man nicht nur an den „Klerikalismus von oben“, sondern auch an den soeben beschriebenen „Klerikalismus von unten“ denken. Im untersuchten Zeitraum von 1964 bis 2014 führt die MHG-Studie im Bistum Augsburg 164 Opfer und 85 Täter auf. Dies sind wohlgemerkt die bekannt gewordenen Fälle, ohne Dunkelziffer! Das bedeutet, dass sowohl Opfer als auch Täter mitten unter uns leben. Hat in der ganzen Zeit tatsächlich kein Mensch irgendetwas bemerkt? Bemerkt auch heute niemand etwas? Fehlt uns der Blick für Opfer? Fehlt uns der Blick für Täter?

Wir wissen alle, dass Missbrauch kein rein kirchliches Problem, sondern vielmehr ein gesellschaftliches Problem ist. Doch das Prinzip funktioniert in allen Bereichen gleich: Missbrauch wird vor allem dort begünstigt, wo Erwachsene, denen Schutzbefohlene anvertraut sind, auf ein scheinbar unantastbares moralisches Podest gestellt werden – seien es Prominente, Lehrer, Trainer, Verwandte oder auch Geistliche.

Ihr Diakon Andreas Thalhofer